Am Karl-Marx-Platz

14.09.2004                                      

1994. Berlin. Neukölln. Karl-Marx-Platz. Altbau. Vorderhaus. Vierter Stock. Ofenheizung. Blick in den Himmel.

Hier solltest du in zehn Jahren nicht mehr wohnen. „Die Kriminalitätsrate von Neukölln ist die höchste von allen Berliner Bezirken!“ sagte mir die Kriminalbeamtin, nachdem ich schon im ersten Monat von einem Mann vor der Haustür überfallen wurde.

„War das ein Ausländer?“ „Nein. Ein Deutscher. Ausländer haben mir geholfen!“

Türken kommen aus dem Dönerladen, den ich zuvor noch passierte. Der Mann rennt. „Sollen wir ihn zurückholen?“ „Ja, bitte.“ Die Polizei nimmt den Mann kurz darauf mit. „Bei uns in der Türkei hätte er mit einem Messer im Rücken auf der Straße gelegen!“

Mittlerweile gibt es ein Internetcafé in meinem Haus, das bis tief in die Nacht hinein für meine Sicherheit sorgt. Als ich mich einmal nach einem Streit mit meinem Freund ausgesperrt hatte, bat ich in dem Café um Hilfe. Statt den Schlüsseldienst zu holen, öffnete mir jemand mit einer Telefonkarte die Tür. Simsalabim, Sesam öffne dich!

„Hier solltest du in zehn Jahren nicht mehr wohnen.“ Das ist nun zehn Jahre her. Ich wohne nun im dritten Stock – mit Zentralheizung und Balkon. Der Blick geht nun in eine Baumkrone. Die Vögel zwitschern.

Kein Geld, um umzuziehen. Der Neue Markt ist zusammengebrochen. Ich habe im letzten Jahr meinen Job verloren. Tagsüber keine Kollegen mehr. Ich könnte eine Woche lang über meinen Bewerbungen brüten ohne mit jemandem zu reden.

Ich trete auf den Balkon. Wenn eine Pferdekutsche vom Richardplatz auf dem Kopfsteinpflaster klappert, ist Pause angesagt, und ich schaue hinunter auf die Straße. Ein Hauch des vorletzten Jahrhunderts wird durch Pferd und Kutsche von dem historischen Platz herübergetragen.

Hier gibt es ringsherum schlichte Altbauhäuser. Auf dem Platz stehen ein Brunnen und ein paar große Skulpturen. „Kein Wasser wegen Verschmutzungsdefekt. Der Bezirk spart.“ Dieser Sensationsnachricht des Regionalblattes verdanke ich, dass ich nach zehn Jahren den Namen der Skulpturenszenerie neben dem Brunnen erfahre: „Imaginäres Theater“.  Was ist das da eigentlich? Ein Minotaurus? Richtig habe ich mir das nie angeschaut. Wer kennt schon seine Nachbarschaft! Auf dem Platz gibt es noch einen kleinen, runden Imbiss. In zehn Jahren habe ich dort ein einziges Mal Pommes frites gegessen. Ich komme aus Gifhorn, Südtor zur Lüneburger Heide. Gab es dort eigentlich Currywurst? Ich bin eher Vegetarierin. Im Nebenhaus ist eine Fleischerei. Es soll mal die beste von ganz Berlin gewesen sein. Mein Vermieter war früher dort der Fleischer. Jetzt ist er Millionär. Ein freundlicher alter Mann. Keine einzige Mieterhöhung in zehn Jahren. Dass Steinbrocken meines Balkons herunterfielen, interessierte ihn allerdings nicht so sehr. „Ich habe eine gute Versicherung.“ Ob das die Nachbarin unter mir beruhigt, wenn sie ihren Balkon benutzen möchte? „Steuerberaterin von Balkon erschlagen!“ Oh weh!

Meine alte Nachbarin sitzt unten auf dem Platz auf einer Bank. Wir winken uns zu. Sie wohnt schon seit Kriegsende hier und weiß bestimmt noch, dass der Platz mal voller Autos war. Joseph Beuys hat den Parkplatz Anfang der siebziger Jahre ausgefegt. Das Video über diese politische Aktion ist brandaktuell: Beuys fordert mehr Volksbestimmung. Das passt jetzt auch wieder.

Die Zeiten werden schlechter. Ich bin arbeitslos, Schnapsnase auch. Er sitzt vor dem Dönerladen: „Du siehst wunderschön aus“ sagt er als ich im alten T-Shirt mit Jeanshose an ihm vorbeigehe, um im Tabaksladen eine Zeitung zu kaufen. So, so. Verklärt Alkohol so die Sicht?

Hoppla. Ich weiche einem Sofa aus, das in den Trödelladen getragen wird, der sich neben dem Dönerladen befindet. Hier war früher ein Libanese, der mir mal erzählte, dass er seine Frau schon einen Tag nach der Hochzeit betrogen habe, als er als Photograph privat eine Frau fotografieren sollte.

Der Zeitungsladen zwei Häuser weiter gehört Aytac, einem Türken. So friedlich sitzen Türken und Araber auch hier nicht immer beieinander.

Wenn vor dem Internetcafé in meinem Haus Türken und Araber in Streit geraten, laufen schon mal Jugendliche mit Baseballschlägern über den Platz. Ich habe schon Routine darin, mal wieder die Polizei anzurufen.

„Ich mag das Haus nicht mehr, seitdem das Internetcafé da ist!“ sagt Schnapsnase. „Und da kommt auch schon wieder eine kleine Ratte aus dem Haus.“

Die vierbeinigen Freunde dürften seit dem letzten Brand im Keller ausgeräuchert sein. Mal ein Feuerwehreinsatz zur Abwechslung! Polizeisirenen schallen sowieso jeden Tag von der Karl-Marx-Straße zu mir herüber. Ich höre das kaum noch.

Hier gab es schon alles. Die Kriminalpolizei beschattete tagelang den Hinterhof. Als ausgerechnet bei mir ein anderes Mal ein illegaler Einwanderer gesucht wurde, öffnete Gott sei Dank mein Vater ihnen die Tür. Im letzten Jahr sorgte dann auch noch eine Polin, die erwürgt neben den Mülltonnen gefunden wurde, für Aufregung.

Wochenlanges Rätselraten: wer war der Täter? Am Ende war es doch nur ihr Freund im Streit und kein Massenmörder. Das hatten alle natürlich gleich gewusst!

Schnapsnase hatte mit ihr eine weitere Freundin verloren. Davor starben bereits seine Freundin und die Frau aus dem Naturkleidungsladen drei Häuser weiter. Dem armen, netten Mann kommen die Tränen. Baskenmütze und ich schauen uns betreten an. Baskenmütze erzählt mir, dass seine Toilette unter Wasser gestanden habe.

Am nächsten Tag sitzt er auf einer Bank und brüllt über den Platz. Ich gehe hinüber zu ihm und lege meine Hand beruhigend auf seine Schulter: „Was machst du für einen Lärm?“ „Ach die Franzosen in Marseille schmeißen Scheiße aus dem Fenster.“ Seine Toilette muss ihn inspiriert haben!

Heute erzählt er nicht davon, dass er früher von John F. Kennnedy gesponsert wurde, sodass er bis zu dessen Tod in Cannes nicht arbeiten musste, und auch nicht davon, dass dem Pabst die Syphilis aus den Augen schaue.

„Was riecht denn da?“ „Ich habe Kaffee gekauft.“ „Machste mir einen?“ „Ja.“ Als ich mit Kaffeetassen und Kuchen zu Baskenmütze zurückkomme, sitzen wir auf der Bank in der Sonne. „Kennst du Seifensäue?“ „Seifensäue, Baskenmütze??“ „Ja, Seifensäue. Das sind Frauen, die sich nicht waschen. Ich höre sie. Seifensäue sind das.“ „Hörst du Stimmen?“ „Ja.“ „Kennst du die Stimmen?“ „Nein.“

„Hast du tatsächlich mal Baskenmütze ins Café eingeladen?“ fragt mich der Zeitungsmann. „Ja, er hat doch kein Geld.“ Baskenmütze ist entmündigt und lässt auf seinem kleinen Schreibblock per Strichliste anschreiben.

„Und mit mir willst du nicht essen gehen!“ sagt Aytac. „Haha, I touch Aytac“ spiele ich mit der gleichen Aussprache herum.

Die Frau, die mir gegenüber am Platz wohnt, kommt in den Laden und plaudert mit dem Türken. „Nun wohne ich schon zehn Jahre hier, und endlich lerne ich Sie kennen“ sage ich zu ihr. Auch einen Tangopartner habe ich in dem Laden gefunden.

Als ich noch Arbeit hatte, fand mein Leben nicht in Neukölln statt. Die Menschen am Platz entdecke ich erst jetzt nach zehn Jahren.

Das Telefon klingelt. „Wir würden Sie gern einstellen.“ Ich gehe zurück nach Gifhorn. Die Heide ruft. Zehn Jahre am Karl-Marx-Platz sind genug.

 

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